„Von allen warst du der lebendigste. Du warst das Gegenteil vom
Künstlichen, vom Erdachten. Ja, du warst das Erlebte. Jede Faser deines Daseins
bebte wild und zügellos. Habe ich geweint, so hast du es mit mir getan. Habe ich
gelacht, machtest du es mir gleich. Du warst meine Nummer eins, denn du warst
ich, so oft es ging. Und jetzt bist du nicht mehr länger eine Fantasie, du bist
eine Legende. Die Legende, Mensch zu sein.“ M. an Tresalem Avelino,
2004 >< (O.S.T.: Ennio Morricone – Ecstasy of
Gold) Der Moment ist gekommen. Tresalem kann nicht mehr anders. Seine
Füsse gehen die kalten Stufen der verwitterten Treppe hinab. Dann berühren seine
Zehen den Kies und Sand. Wie er ihn geliebt hat und noch immer tut, diesen
gottverdammte Strand von Brighton. Er schaut nicht zurück. Er würde sechs
Augenpaare sehen, die nicht mehr von ihm lassen. Schritt um Schritt nähert
Tresalem sich dem kleinen Boot. Er verlangsamt auch nicht, als das Wetter
zunehmend umschlägt. Wolken dunkler werden und Winde heftiger. Seine dunklen
Augen schauen nur empor, von wo es ihm nun zart herabtropft. Niesel benetzt
seine Lippen, seine Lider, seine Stirn, sein Haar. Er öffnet kurz den Mund,
Niesel benetzt seine Zähne, seine Zunge, seinen Rachen.
Ja, es ist Zeit zu gehen. Zu lange hat der Virus in ihm gefressen.
Nicht HIV, nein, schon seit Geburt litt Tresalem an schlimmeren Krankheiten.
Seinen ur-eigenen. Sie sind es, die ihn nun rufen. Sie sind es, die er zum
Schweigen bringen will. Der Moment des letzten Rastens ist vorbei, Tresalem ist
nicht mehr von seinem Plan abzubekommen. Er hört nicht mehr, wie weit hinter ihm Sheila seinen Namen
lauthals schluchzt. Nein, Tresalem legt beide Hände an den Rand des Kahns und
schiebt. Tresalem Avelino schiebt das Boot hinaus ins
Wasser. Wind und Wellen peitschen dagegen an, als würden sie den
Eindringling nicht dulden wollen. Tresalem Avelino schiebt
weiter. Mit aller Kraft, mit aller noch verbleibender Macht. Seine wenigen
Zuschauer sehen es mit an, seinen verzweifelten, letzten Kampf. Tresalem Avelino
stosst das Boot weiter und weiter. Bereits steht er bis zur Hüfte im Wasser.
Die Wellen reiten es immer wieder zurück, doch trotzdem gelingt es
ihm, sich in das schaukelnde Holz zu liften. Tresalem kämpft mit dem
Gleichgewicht, doch schliesslich gelingt es ihm, sich hinzusetzen und beide
Ruder zu ergreifen. Tresalem Avelino rudert hinaus aufs
Meer. Er rudert und rudert. Das Meer scheint es nicht zu wollen, doch er
rudert wie vom Teufel besessen. Wild peitscht die Gischt am Holz hoch, doch
Tresalem rudert weiter. Er rudert und rudert, als wolle er sich alles aus dem
Leib treiben. Er rudert sich das Gift aus dem Körper. Er rudert sich die Huren
und Stricher von der Haut. Er rudert sich all die Geilheit, all die Gier, all
die Sucht, all den Wahnsinn aus dem Kopf. Er rudert gegen all die Gegner, die er
nie besiegen konnte, er rudert für all die armen Schweine, die von ihm besiegt
wurden. Er rudert und rudert und seine Arme scheinen schier zu platzen. Das Boot
schaukelt über die wilden Wellen und Tresalem schreit laut heraus. Es ist die
Anstrengung, doch es ist auch die Erlösung. Es scheint, als würde das ganze
Universum nun auf ihn blicken. Als würde es ihm die Hand reichen, jetzt, im
letzten Moment, die Hand reichen und mit ihm Frieden zu
schliessen. Über Tresalems Gesicht weht es Meerwasser und Tränen. Seine Augen
sind rotgeheult, doch auf seinen Lippen tanzt jetzt ein Lachen. Jetzt, wo er
schon soweit draussen ist, der Strand von Brighton, ach dieser Strand von
Brighton, nur noch ein dünner Streifen ist. Seine Gäste kann er nicht mehr
erkennen. Sie stehen noch immer da. Sie sind es ihm
schuldig. Tresalem Avelino rudert und rudert. Er rudert noch viele Stunden
und keine Minute hört er mit dem Weinen und dem Lachen auf. Erst als er ganz
weit draussen ist und England nur noch ein wager Nebel ist, hält er inne. Es
sind noch immer schwarze Wolken, doch durch sie bricht ein dicker Strahl von
Sonne. Wenige hundert Meter vor ihm, hinab ins Meer.
Tresalem steht auf. Sein Körper glüht. Er schluchzt und lacht. Er
wischt sich den Schweiss von der Stirn, den Regen aus den Haaren, die Tränen aus
den Augen. Alles ist still. Der Morgen ist angebrochen.
Tresalem Avelino setzt einen Fuss auf den Rand des Bootes. Noch
einmal blickt er in das Licht der Sonne. Noch einmal zurück aufs Land. Noch
einmal hoch in den Himmel. Der Moment ist gekommen. Tresalem kann nicht mehr anders. Mit
einem Satz stösst er sich vom Rand des Bootes. Sein Körper peitscht ins Wasser.
Tresalem tut keinen Wank, als er langsam versinkt. Tiefer und tiefer. Das Wasser
wird immer schwerer auf seinem Körper. Seine Augen schauen hoch, zur Oberfläche,
die langsam immer dunkler wird. Tresalem Avelino versinkt auf dem Grund des Meeres.
Er stirbt noch an diesem Morgen und verpasst einen der sonnigsten
Tage des Jahres. >< „Es ist egal, wie hell oder wie lange deine Kerze brennt. Wichtig
ist das Wachs, das sie zurück lässt. Sollte ich einmal abgebrannt sein, so soll
mein Wachs ganze Hektare überzogen haben. Menschen sollen darin waten und mit
ihren Füssen stecken bleiben. Sie sollen sich an mich erinnern, mich, Tresalem
Avelino, der ihnen sein ganzes Leben vor die Füsse gekotzt hat, seine Seele in
eine Rakete gestopft und in den Himmel gejagt hat um sie zu unterhalten, diese
Hurensöhne. Das schulden sie mir. Nicht mehr, nicht weniger. Ich bin Tresalem
Avelino, ein Ding irgendwo zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Ein Mensch und
ein Traum. Fleisch und Luftblase. Ich zerplatze, wenn ich zu schwer geworden
bin. So wie es jeder von uns tun sollte.“ Tresalem Avelino,
2004 |